Christentum von ‚rechts‘. Aktuelle Perspektiven und Deutungen
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Der folgende Beitrag bietet eine ausführliche Besprechung des Bandes Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik (Claussen et al. 2021; weitere Referenzen nur mit Seitenangabe), der von fünf evangelischen Theologen gemeinsam konzipiert und als „bündiges, wendiges Taschenbuch“ (5) veröffentlicht wurde. Die Ausführlichkeit erscheint aus drei Gründen sinnvoll. Erstens sind theologische Erörterungen der sog. Neuen Rechten bisher selten. Es überwiegen sozial- und kulturwissenschaftliche Texte, wobei seit 10 Jahren eine regelrechte, vor allem englischsprachige Forschungsindustrie sprießt. Zweitens handelt es sich um ein Thema von anhaltender Brisanz. Staatliche Maßnahmen im ‚Kampf gegen rechts‘ werden ständig erweitert. Wer mitkämpft, darf auf großzügige finanzielle Förderung hoffen. Die Skepsis im linksliberalen Spektrum gegenüber staatlicher Repression hat abgenommen. Kritisiert wird höchstens noch taktisches Ungeschick, wie z. B. fehlende „Trittsicherheit“ als „öffentlicher Kommunikator […] in der durch das Internet dynamisierten Informationsgesellschaft“, damit sich „schlechte Beispiele vergangener Verfassungsschutzskandale“ nicht wiederholen (Müller-Neuhof 2019: 309). Drittens sind Leitungsgremien der christlichen Kirchen aktiv am ‚Kampf gegen rechts‘ beteiligt, wie sie auch bei der Durchsetzung der Pandemiepolitik mithalfen, insbesondere unter dem Motto „Impfen ist Nächstenliebe!“ Regelmäßig werden Erklärungen zur Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit der (Wahl der) AfD abgegeben.1 Dabei wird die eigene Haltung als einzig theologisch vertretbare imaginiert, so dass sich eine Diskussion erübrigt.2 Doch wie verhält sich dieses Selbstverständnis zu der Maxime eines evangelischen Ethikers, die Kirchen sollen den Grundsatz der „gegenseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche […] präsent halten und einüben helfen“ und eine „politische Kultur“ fördern, „die in jedem Menschen ein gleichberechtigtes Kind Gottes sieht“ (Anselm 2020: 54, 58)? Die kirchlich-theologische Diskurspolitik verdient also eine genauere Untersuchung. Die vorliegenden Deutungen bieten Einblicke in ‚rechtes‘ christliches Denken und ermöglichen kritisch-konstruktive Rückfragen. Wir werden die Texte des Bandes in der Reihenfolge, in der sie erscheinen, besprechen. Da die Corona-Krise nur am Rand erwähnt wird, werden entsprechende Bezüge nur punktuell vorgenommen.
Einleitung
Der Band beginnt mit der Diagnose, dass die politische Landschaft und Kultur in Deutschland sich seit zwei Jahrzehnten „stark verändert“ habe (1). Das deutlichste Zeichen dafür sei der Erfolg der AfD. Tatsächlich konnte die AfD bei der Bundestagswahl 2017 ihre Zweitstimmen von 4,7% auf 12,6 % steigern. Am 1. September 2024 gelang es der Partei erstmals, bei einer Landtagswahl die meisten Stimmen zu gewinnen. Doch der letzte Beitrag des Bandes weist darauf hin, dass gewichtige Veränderungen des deutschen (partei-)politischen Spektrums bereits in den 1980er und 1990er Jahren zu beobachten waren. Zudem hatten die Transformationen und ökonomischen Verwerfungen im Osten Deutschlands nach 1990 im Vergleich zu den Entwicklungen der letzten Jahre wohl noch tiefgreifendere Konsequenzen.
Gleichwohl seien „Konsense“ über die Bedeutung der ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ oder einer ‚offenen Gesellschaft‘ heute „viel fragiler und angefochtener“ als Ende des 20. Jahrhunderts, bei akuten Krisen gehe es schnell um Grundsätzliches, und die „wirkmächtigsten Repräsentanten“ von Protesten kommen, anders als früher, zumeist „von rechts“ (1). Dieser Protest habe eine bisher kaum erforschte religiöse „Diskurs- und Begründungsdimension“ (2), doch es falle den evangelischen Landeskirchen3 schwer, sich angemessen zu dem Phänomen zu verhalten, denn sie stehen, so heißt es, dem ‚linksliberalen‘ Milieu näher als der Neuen Rechten, die als „Brücken-Milieu zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus“ (1) taxiert wird. Die Beschäftigung mit dem ‚Christentum von rechts‘ ermögliche eine „Selbstprüfung“, es gehe nicht einfach um etwas Fremdes, sondern es seien „einige Déjà-vus“ mit Altlasten, die man „längst für überwunden und abgelegt gehalten hatte“ (3), zu erwarten. Leider erfahren wir nichts Genaues über diese Altlasten. Die ersten drei Beiträge des Sammelbandes verorten sich auf der ideellen Sonnenseite der progressiv-aufgeklärten Neuzeit und damit auf sicherem Terrain, in dem unzeitgemäßer Ballast immer schon „überwunden und abgelegt“ ist.
Schließlich wird eine weitere „Herausforderung“ benannt. Die meisten Texte der Neuen Rechten seien engagierte „‚laientheologische‘ Werkstücke“ mit einer oft „aggressive[n] Dynamik“, die es notwendig mache, darauf zu achten, welche Folgen ihre Betrachtung für den Betrachtenden haben könnte; umso wichtiger sei die Absicht, die Texte „in Ruhe“ und „kühl zu untersuchen“ und sich zu fragen, „ob sie nicht doch auch relevante Fragestellungen und berechtigte Anliegen beinhalten könnten“ (4). Intendiert wird also, trotz einer gewissen Kontaminationsgefahr, eine „Entdämonisierung“ und „sachgerechte Auseinandersetzung“ (4). Damit unterscheidet sich der Band von einer zeitgleich entstandenen Publikation aus katholisch-theologischer Sicht, die programmatisch der Begründung des Widerstands gegen die wahrgenommene „rechte Normalisierung“ dienen soll (Collis; Lis; Taxacher 2021).4
1. „Im Bann der Dekadenz“
Der erste Beitrag stammt von Martin Fritz, Privatdozent und Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW)in Berlin. Er konstatiert ein unübersichtliches „Diskursfeld“, in dem zwei Sammelbände „exemplarische Einblicke“ (10) bieten und sich daher als Untersuchungsgegenstand empfehlen: Rechtes Christentum? Der Glaube im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken (2018) und Nation, Europa, Christenheit. Der Glaube zwischen Tradition, Säkularismus und Populismus (2019). Herausgeber sind jeweils der katholische Theologe und Politikwissenschaftler Felix Dirsch, der Mitbegründer der Gruppe Christen in der AfD Volker Münz (MdB 2017–2021) und der evangelische Theologe Thomas Wawerka, der uns noch begegnen wird. Die Beiträge in den beiden Bänden sind verschieden im Blick auf theologische Kenntnisse und methodisches Vorgehen und zeigen „markante positionelle Divergenzen“ (12), auch in der Bestimmung dessen, was als ‚rechts‘ gelten kann. Fritz erklärt, man dürfe die Texte „nicht vorschnell über einen Kamm scheren“ (13). Gleichwohl entscheidet er sich für eine synthetisierende Interpretation, denn er sieht eine hohe ideelle Übereinstimmung, die er mit den Begriffen „Gegen-Konsens“ und „Krisenbewusstsein“ kennzeichnet und als erstes in den Blick nimmt.
Der „Gegen-Konsens“ äußere sich im „polemischen Tonfall“ mit „disqualifizierenden Ausdrücken“ gegen ‚Establishment‘ und ‚Eliten‘ und im Vorwurf einer ‚Manipulation der Massen‘ (13). Es gebe keine „Abwägung von Gegenargumenten“, oft genüge der „geläufige Diskreditierungsterm“, um in der Leserschaft „einen scheinbar anderwärts bereits sattsam geklärten Sachverhalt und seine unstrittige Bewertung aufzurufen“ (14). Das erinnert an eine andere neuere Semantik der Diskreditierung: „Coronaleugner“, „Impfgegner“ und „Impfverweigerer“ (vgl. Klöckner; Wernicke 2022) oder „Russland-Versteher“ (vgl. Bröckers; Schreyer 2019). Würde Fritz auch bei diesen „Sprachcode[s]“ (14) sagen, hier werde „‚mit der Faust in der Tasche‘ geschrieben“ und es handle sich um eine „Daueraggression“ – wenn auch nicht mit einem „Marginalisierungsgefühl“ (15), sondern in dem Wissen, seine „zynisch-herablassenden […] Invektiven“ (17) gegen eine Minderheit richten zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen?
Das „Krisenbewusstsein“ der Neuen Rechten reagiert laut Fritz auf gesellschaftliche Veränderungen seit den 1960er Jahren und präsentiert eine „geballte Dekadenzdiagnose“ (18), in der ein hedonistischer Individualismus das gesellschaftliche Zusammenleben aushöhlt, die Bedeutung gemeinschaftsbezogener Verantwortung verdrängt und für aktuelle Krisen mitverantwortlich ist. Für Fritz spricht diese Diagnose zwar manches Bedenkenswerte an, ruft bei ihm aber vor allem „Ermüdung und Abwehr“ hervor, da die Problemanzeigen „summarisch“ erfolgen (19) und argumentativ schwach erscheinen. Darin zeige sich das „strukturelle Problem“ einer Kulturkritik, die sich selbst immer schon „auf verlorenem Posten“ wähnt: sie hadere mit dem Widerspruch zwischen hohem Geltungsanspruch und geringer Geltung, „überfließe von unheilsprophetischer Emphase“ und neige zu „polemisch zuspitzender und verkürzender“ Rhetorik, die für ein gleichgesinntes Publikum bestimmt ist, während die „Masse der Fehlgeleiteten“ samt ihrer „Fehl-Leiter“, die tatsächlich „zu bekehren wäre“, die „Predigt“ entweder nicht hören oder, sollte dies doch einmal vorkommen, „diese Kirche ob der befremdlichen Klänge mit Kopfschütteln oder Augenrollen schnell wieder verlassen“ (19). Damit zeichnet Fritz das idealtypische Bild einer Echokammer, wie sie allerdings nicht nur in ‚rechten‘ Gruppenbildungen zu finden ist.
Fritz verortet das heutige ‚Christentum von rechts‘ in der Tradition „konservativer Aufklärungsreserve“ (20). Demnach befördere die „Moralisierung und ‚linke‘ Politisierung von Kirchenvolk und Kirchenoberen“ (21) eine geistliche Aushöhlung, die eine grundsätzliche „Umsteuerung in der Auffassung und Gestaltung des Christentums“ (23) notwendig mache.
Im Hauptteil seines Beitrags erläutert Fritz fünf „Grundmaximen rechten Christentums“ (24): Bewahrung (Ordnung statt Relativismus), Realismus (Verantwortung statt Moralismus), Patriotismus (Verwurzelung statt Globalismus), Wehrhaftigkeit (Selbstbehauptung statt Dialogismus) und Entschiedenheit (Selbstgewissheit statt Skeptizismus).
a.) Fritz bemerkt, dass Begriffe wie Bewahrung und Ordnung in den beiden Bänden kontextualisiert werden können. So hinterfragt kein Beitrag die im 20. Jahrhundert erzielten Fortschritte im Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Theologisch wird Gott in vielen Beiträgen als Schöpfer und Garant der „gegebenen Weltordnung“ (26) verstanden, wobei auf die Naturrechtstradition oder die ethische Bedeutung von ‚Schöpfungsordnungen‘ verwiesen wird.
b.) Bei der zweiten Grundmaxime geht es vor allem um die Migrationspolitik. Die moralische Legitimierung dieser Politik und die Behauptung ihrer Alternativlosigkeit werden als unrealistische „Überdehnung christlicher Moral“ kritisiert: die „jesuanische Liebesethik“ werde zu einer „Gesinnung universaler Humanität“ (29), es komme zur Verwischung der Unterscheidung von staatlicher und kirchlicher Verantwortung. Mit dieser Kritik benenne die Neue Rechte zwar eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, problematisch sei aber die „Einschränkung der Reichweite des Liebesgebots“ (31) auf die individuelle Lebensführung und das nahe soziale Umfeld.
c.) Im Blick auf den Patriotismus notiert Fritz bei der Neuen Rechten gewisse Differenzierungen. So werde „für einen neuen Volks- und Heimatsinn geworben“ und zugleich „vor den Gefahren nationalistischer Exzesse gewarnt“ (34f.). Es gehe um den Nachweis der Vereinbarkeit von Christentum und Patriotismus bzw. humanitärem Universalismus und vaterländischem Partikularismus, so dass beides sich „wechselseitig durchdringen und stärken“ kann; regionale Heimatverbundenheit werde „religiös aufgeladen“ und zugleich „das Christliche durch seine volkstümliche Inkulturation oder ‚Inpatriierung‘“ im Bewusstsein der Menschen „eingewurzelt“ (36).
d.) Die vierte Grundmaxime betrifft vor allem die „Frontstellung“ gegenüber dem Islam als „Fremdreligion und -kultur“ (38). Dabei komme es bei zu einer „Spannung zwischen identitätspolitischen und genuin religiösen Motiven“: Wenn das Wort „Christentum“ in erster Linie einen weltanschaulich-kulturgeschichtlichen „Herkunftsraum“ bezeichnet, so fragt Fritz, besteht dann nicht die Gefahr der „Sakralisierung kultureller Identität auf Kosten dessen, was frommen Christen heilig ist“ (41)? Das „identitäre Christentum“ präsentiere sich zwar in „metaphysisch-religiös ‚abgerüsteter‘ Gestalt“, um für „säkularisierte Zeitgenossen“ offen zu bleiben, verfehle damit aber den „Eigensinn des Christlich-Religiösen“ sowie das Ziel, „der europäischen Identität metaphysische Fundamente zu unterlegen“. Diese Spannung sei indes unvermeidbar, denn die Neue Rechte könne „den langen Modernisierungs- und Säkularisierungsprozess“ als Grundlage der wahrgenommenen „Identitätsschwäche“ des Christentums nicht „rückgängig machen“ und sei selbst von ihm betroffen (42). – Hier wäre ein Vergleich zwischen Frontstellungen im ‚Kampf gegen den Islam‘ und im ‚Kampf gegen rechts‘ interessant. Beide ‚Kämpfe‘ werden mit dem Stichwort der „Wehrhaftigkeit“ legitimiert und wirken identitätsstiftend. Statt nur politische Gegensätze festzustellen, könnte man – gegen die Absicht der Akteure auf beiden Seiten – nach diskurspolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Parallelen fragen.
e.) Die fünfte Grundmaxime, Entschiedenheit, ist sachlich verwandt mit der ersten, Bewahrung. Sie impliziert auf katholischer Seite die „Tendenz zum Traditionalismus“ (44) und auf evangelischer Seite die Orientierung an der Bibel oder den evangelischen Bekenntnissen. Das Wort ‚rechts‘ meint in diesem Kontext nicht nur den politischen Ort, sondern das „rechte Bekenntnis im Sinne der Orthodoxie“ (Dirsch et al. 2019: 23). Fritz erklärt, der exklusive Anspruch auf Rechtgläubigkeit negiere eigentlich die jeweils andere Seite innerhalb des ‚rechten‘ kirchlichen Spektrums. Dennoch herrsche eine große „interkonfessionelle Toleranz“, der Impuls zur „Restauration und Revitalisierung des Christentums“ (47) sei stärker als das Verlangen, die je eigenen Partikularansprüche durchzusetzen. Dabei werden zwei „idealtypische Grundoptionen“ im Blick auf das Christentum in der Moderne sichtbar: „Subjektivismus vs. (Neo-)Objektivismus oder Liberalismus vs. Konservativismus“ (47), wobei die Pointe für Fritz darin liegt, dass auch die Geltung der (neo-)objektiven Option von der subjektiven Wahl bzw. Entscheidung abhängt. Die Behauptung einer solchen Abhängigkeit ist jedoch ihrerseits wieder eine subjektive Setzung, auch wenn sie weiträumig als „geistige Signatur der europäischen Neuzeit“ (48) und sogar als „schicksalhaft“ (52) postuliert wird. Zudem meint Fritz, ohne dies zu begründen, die Wahl der (neo-)objektiven oder konservativen Position sei eine regelrechte „Selbsttäuschung“ und dazu noch eine „hartnäckige“ (48). Dass ein konservativer Mensch den subjektiven Charakter seiner Wahl durchaus anerkennen und zugleich überzeugt sein kann, dass die Geltung der von ihm gewählten Option nicht von seiner Zustimmung abhängt, kommt nicht in den Blick.
Fritz resümiert: Keine der fünf Grundmaximen sei ein Alleinstellungsmerkmal des ‚rechten Christentums‘. Dessen Themen und Anliegen seien typisch konservativ und teilweise verständlich oder sogar vernünftig. Es gebe aber einen zentralen Unterschied zum „Normalkonservativen“ (56), den die genannten Stichworte „Gegen-Konsens“ und „Krisenbewusstsein“ anzeigen: die spezifische „Frontsituierung“ und das „depressive Bewusstsein“, mit den eigenen Anliegen durch die erwähnten „Liberalisierungsschübe […] kulturell massiv ins Hintertreffen geraten zu sein“ (54). Das heutige ‚rechte‘ Christentums agiere im „Kulturkampfmodus“ (54) mit „populistischer Verschärfung“: einem ‚linken‘ „Moralismus der Nächsten- und ‚Fernstenliebe‘“ werde ein ‚rechter‘ Moralismus der „kollektiven Eigenliebe und Selbstbehauptung“ (55) entgegengesetzt.
Doch, so ist zu fragen, kommt die „Gegen-Moralisierung“ (55) immer nur von einer Seite? Oder bedingen ‚sich links‘ und ‚rechts‘ gerade hinsichtlich der Moralisierung gesellschaftspolitischer Themen gegenseitig? Außerdem weist Fritz selbst auf die ‚rechte‘ Verbindung von Partikularismus und Universalismus hin, so dass Eigenliebe und Nächstenliebe nicht bloß als Gegensatz zu verstehen sind. Zudem anerkennt er mehrfach die Legitimität konservativer Anliegen und die partielle Berechtigung der Kritik an ‚linker‘ oder ‚linksliberaler‘ Politisierung von Theologie und Ethik, ohne dies näher zu erörtern. Stattdessen benennt er sein „mulmiges Gefühl“ (57) angesichts der von ihm wahrgenommenen „Deformation des Konservativen“ (56) durch die politische „Verzweckung von ethisch-religiösen Motiven“ sowie der Tendenz zur „Verzeichnung“ (62) der kritisierten Positionen, die einen „gravierende[n] Mangel an Fairness“ (58) anzeige. Das ‚rechte Christentum‘ schneidet für Fritz also nicht nur bei „intellektueller Plausibilität“, sondern auch im Blick auf „moralische Integrität“ (62) schlecht ab, zumindest „nach Maßgabe von Grund-Sätzen insbesondere des Neuen Testaments“ (58). Einmal schränkt er seine Kritik zwar auf „die radikaleren rechtschristlichen Populisten“ (58f.) ein, aber dann stehen diese wieder pars pro toto. Ein „‚satisfaktionsfähiger, intelligenter‘“ (45) christlicher Konservativismus, wie er dem dabei zitierten Religionsphilosophen Harald Seubert als Zukunftsvision vorschwebt, ist also (noch?) nicht in Sicht.
2. „Inszenierung der Empörung“
Der zweite Beitrag des Bandes stammt von Andreas Kubik, Professor für Praktische Theologie an der Universität Osnabrück. Er konstatiert, dass die politische Orientierung des deutschen Christentums im 19. und 20. Jahrhunderts von Vorstellungen geprägt war, die man „in heutiger Diktion als ‚rechts‘ bezeichnen würde“ (65), und möchte die Neue Rechte vor diesem Hintergrund verstehen. Kubik analysiert exemplarisch eine Mahnwache, die zwei Tage nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 stattfand. Organisiert wurde sie vom 2015 gegründeten „patriotischen Bürgernetzwerk“ Ein Prozent und der Protestgruppe Merkel muss weg, die maßgeblich von dem AfD-Politiker Franz Wiese (2014–2021 MdL Brandenburg), der die Mahnwache leitete, aufgebaut wurde. Grundlage der Analyse ist ein bearbeiteter Video-Mitschnitt der Veranstaltung, der auf YouTube noch einsehbar ist.
Insgesamt will die Machwache dem würdigen Gedenken an die Opfer des Anschlags und ihre Familien dienen. Sie steht unter dem Motto der „Ruhe“, das in der Begrüßung betont wird und in den ausgewählten Musikstücken, die über Lautsprecher erklingen, zum Ausdruck kommt. Den Mittelpunkt bildet das „geistliche Wort“ des evangelischen Pastors Thomas Wawerka. Am Schluss werden Kerzen entzündet. Gelegentlich schwenkt die Kamera auf anwesende AfD-Politiker.
Dass Kubiks rhetorisch-theologische Analyse im Titel von einer „Inszenierung der Empörung“ spricht, erscheint zumindest einseitig. Faktisch überwiegt während der Veranstaltung die Atmosphäre der Trauer und Nachdenklichkeit. Der Ton der Redner wirkt gedämpft, die Reaktion des Publikums beschränkt sich auf verhaltene Beifallskundgebungen. Noch fragwürdiger ist Kubiks These, Wawerkas Ansprache „verorte sich selbst politisch klar als Teil der erneuerten ‚konservativen Revolution‘“ (79). Ausgangspunkt dafür ist Wawerkas Bemerkung „Man will gerne was tun gegen diesen ganzen Wahnsinn und man weiß doch nicht, was man tun soll“. Für Kubik bleibt unklar, worum es sich bei „diesem ganzen Wahnsinn“ handelt (75). Doch Wawerka selbst erklärt sofort, worum es geht: „wenn Unschuldige angegriffen und mit Mord und Totschlag bedroht werden“. Der „Wahnsinn“ liegt also in der Methode des Terrors gegen Zivilisten. Kubik übergeht diese Näherbestimmung und erwähnt nur Wawerkas Folgerung, es gebe unter bestimmten Umständen ein christliches „Recht auf Widerstand“, nicht durch Anwendung von Gewalt, sondern durch das „freie und klare Wort“. Weiterhin erklärt Wawerka, es seien „politische Fehlentscheidungen“ gefallen, die rückgängig gemacht werden müssten. Man befinde sich auf einem „Irrweg“ und müsse „umkehren“. Kubik sieht darin verständlicherweise einen Hinweis auf die Migrationspolitik. Doch seine weiteren Interpretationen sind ungenau: Wawerka spricht von einem „Deckeln der Konflikte“ und mahnt, „echter Friede“ gründe in einer „funktionierenden Rechtsordnung“, für die man sich „einsetzen“ solle. Diese Wortwahl erinnert Kubik an „Standardargumente der Neuen Rechten“, gemäß denen eine „repressive Diskurskultur“ bestimmte vom ‚Mainstream‘ abweichende Meinungen ‚deckele‘ und „in Deutschland die ‚Rechtsordnung‘ außer Kraft gesetzt sei“ (78). Doch das „Deckeln der Konflikte“, von dem Wawerka spricht, ist etwas anderes als das ‚Deckeln‘ bestimmter Meinungen, und der Hinweis auf die Notwendigkeit des Einsatzes für eine „funktionierende Rechtsordnung“ setzt voraus, dass eine solche Ordnung noch nicht außer Kraft gesetzt ist. Ausgeblendet wird auch Wawerkas Fürbitte, dass er und alle Mitbetenden „zur Erhaltung und Erneuerung unserer Gesellschaft beitragen können“; sie endet mit den Worten: „Halte deine schützende Hand über die Schwachen. Gib Frieden, Gott.“ Sieht so die neue ‚konservative Revolution‘ aus?
Kubiks Schlussabschnitt zeigt, wie es zu der einseitigen Deutung kommt. Er unterstellt Wawerka ein konspiratives Vorgehen: die Ansprache enthalte gezielte „äußerst unklare Anspielungen und Leerstellen“ (80), die von den „politisch Gleichgesinnten“ (78) unter den Anwesenden genau verstanden würden. Tatsächlich ist es hier der Interpret, also Kubik, der die Leerstellen auffüllt. Zudem bemerkt er selbst, dass Wawerkas Ansprache auf lutherischen Grundüberzeugungen beruht. Dazu gehört aber auch die Maxime, konkrete politische Forderungen oder Stellungnahmen in der Predigtpraxis zu vermeiden, und Wawerka folgt genau dieser Maxime, die für sein Denken maßgeblich ist (Roth 2017). Die verschwörungshypothetische Vermutung gezielter Unklarheiten ist jedenfalls nicht die einzig mögliche Deutung.
Für Kubik besteht eine Spannung in der Ablehnung ‚rechter‘ Positionen einerseits und der seelsorgerlichen Empathie für Anhänger dieser Positionen andererseits. Dabei setzt er einen „neuzeitlichen Differenzierungsprozess“ (83) voraus, der zu ‚linksliberalen‘ Positionen geführt habe und ‚rechte‘ Positionen nur als Abweichung kennt. Die deutschen Kirchen, so heißt es, haben sich nach 1945 „der Demokratie geöffnet“ und den neuen „politischen und juristischen Tendenzen“ angepasst. Diese Entwicklung habe allerdings „ihren Preis“: Für diejenigen Mitglieder, die „nicht ohne weiteres mit jener progressiven Fortbestimmung“ konform gehen“, entstehe eine „Repräsentationslücke“, sie fühlen sich von ihrer Kirche nicht mehr vertreten. Doch die „Kosten“ des Fortschritts seien „geschichtsphilosophisch unvermeidlich“, und so ergebe sich eine „schwierige Doppelaufgabe“: Einerseits sei die „klare Abgrenzung von undemokratischen und zum Faschismus tendierenden Richtungen und Positionen“ geboten, andererseits haben die Kirchen weiterhin den Auftrag, „gedanklich und menschlich gesprächsfähig und -willig [zu] bleiben“ und sich vor einer Haltung des Hochmuts zu hüten (84). Doch, so ist zu fragen, was passiert, wenn beides kollidiert? Welcher Teil der „Doppelaufgabe“ hat Vorrang? Die Behauptung der „progressiven Fortbestimmung“ – und damit der eigenen Position – als „geschichtsphilosophisch unvermeidlich“ erscheint für Gespräche mit der Gegenseite wenig förderlich.
3. „Politische Theologie als Kultur der Niederlage“
Der dritte Beitrag stammt von Johann Hinrich Claussen, Honorarprofessor und Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sein Thema ist der Historiker und studierte evangelische Theologe Karlheinz Weißmann, ein wichtiger „Ideengeber der Neuen Rechten“ (86). Als Deutungsperspektive wählt Claussen ein Stichwort des Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch: die „Kultur der Niederlage“ (85), d. h. die „Erfahrung einer epochalen und als Trauma erlebten Niederlage“, die mit einer Reihe von „Gegenstrategien“ bearbeitet wird: „Relativierung eigener Verantwortung und Schuld, Umkehr von Täter- und Opferrollen, Ressentiment gegen die Sieger, eine moralisierende, einseitig negative Geschichtsbetrachtung und Gegenwartsdeutung, im Gegenzug die Erfindung einer Retro-Utopie, die Prätention, einer Gegen-Elite anzugehören und über geheime Heilstraditionen zu verfügen, ein ebenso übersteigertes wie verletztes Selbstbewusstsein […], das aus der radikalen Entwertung anderer lebt, was sich in gewaltträchtigen Fantasien einer politischen Umwälzung ausleben kann“ (87). Die „Kultur der Niederlage“ leiste „Erhebliches zur Stabilisierung des zutiefst verunsicherten Selbst“, sei aber „mit hohen Kosten verbunden“, denn sie befördere eine unrealistische Sicht der eigenen Situation und verhindere die „Erarbeitung konstruktiver Lösungen für konkrete Probleme“; als „Manifest“ einer solchen Kultur verweist Claussen auf Weißmanns „notorisch gewordene[s]“ Buch Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–1945, das 1995 erschienen ist (87).
Claussen verortet seinen Forschungsgegenstand also dort, wo von vorneherein die sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Kritik an der Neuen Rechten nahe liegt. Weißmanns Texte, sagt er, betreiben ein „gezielte[s] Lavieren“ und lassen wichtige Fragen bewusst „im Vagen“ (88). Die Frage, ob sie „noch konservativ oder doch schon rechtsextrem“ sind, sei „falsch gestellt“: Weißmann lasse die Differenz zwischen konservativ und rechtsextrem bewusst „in der Schwebe“ (110), um dem Vorwurf des Geschichtsrevisionismus zu entgehen. Claussen praktiziert damit genau das, was er Weißmann und der Neuen Rechten vorwirft: Er unterstellt gezielte Diffusion und eine „Motivation durch niedere Beweggründe“ (99). In dieser Lesart vertritt Weißmann nicht bloß einen „Antiliberalismus von rechts“ – eine Wertung, der er selbst wohl zustimmen könnte –, sondern erscheint als Revanchist und verkappter Parteigänger des (Neo-)Faschismus, von dem er sich nur aus taktischen Gründen abgrenzt.
Wie andere Vertreter der Neuen Rechten meint Weißmann, „niemals zuvor“ habe „ein Volk so hart für die Untaten gebüßt, die es beging oder die doch in seinem Namen begangen wurden“ (88). Laut Claussen verweist diese tatsächlich fragwürdige These auf einen ‚Schuldabwehrkomplex‘, analog zu der „bei den Neuen Rechten beliebten Floskel ‚Schuldkomplex‘“ (89), mit dem die (west-)deutsche Erinnerungspolitik attackiert wird. Weißmanns Erinnerung an das „Schicksal deutscher Gewaltopfer im und nach dem Zweiten Weltkrieg“ versteige sich zu einem „deutschen Passionsexzeptionalismus“, der sich gegen die „These von der Singularität der Shoa“ (89), also gegen einen Shoa-Exzeptionalismus richtet. Unklar bleibt bei Claussen, ob es Weißmann dabei um die Abwehr jeder Schuld und Verantwortung oder um einen anderen Umgang mit Schuld und Verantwortung geht. Wichtig ist auch der Kontext der zitierten Aussagen. Sie erschienen 1995, zeitgleich mit dem Beginn der Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 und ein Jahr vor Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Beide Male folgte eine breite öffentliche Debatte, und der ‚Standortvorteil‘ der neuen ‚Berliner Republik‘ (Schneider 2000; Finkbeiner 2020: 418) im internationalen Geschäft wurde deutlich. Im Ergebnis konnte die Beteiligung am NATO-Angriff gegen Jugoslawien 1999 vom damaligen Außenminister J. Fischer als Lehre aus der eigenen Vergangenheit nobilitiert werden: Deutschland führte Krieg nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, denn es galt ein „neues Auschwitz“ zu verhindern (vgl. Schmidt 1999). Das offizielle Erinnern wird seitdem regelmäßig zur Legitimierung (geo-)politischer Machtansprüche verwandt, und der aus dieser geschichtspolitischen Sinnstiftung resultierende moralische Dualismus (Johnstone 2002: 65–123) ist zur Signatur deutscher Außenpolitik geworden. Es wäre wichtig zu wissen, wie Weißmann und die Neue Rechte diese Entwicklung einschätzen.
Zur Untermauerung der These, Weißmann vertrete eine „Kultur der Niederlage“ zeichnet Claussen eine ähnliche Ideengeschichte des (west-)deutschen Protestantismus wie die ersten beiden Beiträge: 1959, im Geburtsjahr Weißmanns dominierten gesellschaftlich und kirchlich „stark konservative, reaktionäre oder auch revisionistische Kräfte“; danach kam es zur Demokratisierung und Integration der Kirchen in die ‚offene Gesellschaft‘. Dieser Prozess brachte „epochale Zivilisierungs- und Humanisierungsgewinne“, die Claussen nicht näher benennt, führte aber auch zum Verlust von „Traditionen, Frömmigkeitsformen, Beziehungen und […] Menschen, die diesen Fortschritt nicht mitmachen wollten oder konnten“, und exakt in dieses „Milieu theologischer Modernisierungsverlierer [müsse] Weißmann eingezeichnet werden“ (92). Er sei zugleich alt-rechts, indem er lutherische Positionen, die im Protestantismus seiner Kindheit „als Teil des legitimen Meinungsspektrums galten“, reformuliert, und neu-rechts, weil er auf die heilsame Transformation des (west-)deutschen Protestantismus „bloß im Modus des Ressentiments reagieren kann“. Zugleich scheint für Claussen der „demokratische Mehrheitsprotestantismus inzwischen selbst in die Jahre gekommen zu sein“ und droht, „zu den Verlierern der nächsten Modernisierungswellen zu werden“. Die „‚Verlierer‘ von damals“, so mahnt er, könnten zu den „‚Gewinnern‘ von morgen gehören“ (wie Bob Dylan schon 1963 sang: And the loser now will be later to win / For the times they are a-changin‘). (93)
Hier besteht allerdings ein methodisches Problem: Weißmanns Buch von 1995 kann gerade nicht als Beleg für Claussens These gelten. Es provozierte „heftige Debatten“, und sein Autor konnte einen „außerordentlichen Einfluss“ für sich verbuchen, bevor sich das „öffentlich-politische Erfolgszeitfenster“ für Weißmanns öffentliches Wirken wieder schloss (Finkbeiner 2020: 33, 418). Fruchtbarer als Gewinn-Verlust-Rechnungen, die auch von Protagonisten der Neuen Rechten gerne aufgestellt werden, wäre es, die Neue Rechte selbst als Bewegung der Moderne zu verstehen, wie M. Fritz vorschlägt. Auf diese Weise könnten umfassende sozialhistorische Dynamiken in den Blick kommen, z. B. der „Geist des Kapitalismus“, der die verschiedenen Arten der Kapitalismuskritik aufnimmt, um den Kapitalismus zu stabilisieren (Boltanski; Chiapello 2003: 68–87).
Abschließend fasst Claussen den Protestantismus Weißmanns in drei Stichworten zusammen. Erstens: „Politische Theologie des Autoritären“ mit dem Ziel der ideenpolitischen „Renaissance des ‚Rechten‘“: die Orientierung „am national Ganzen, Eigenen und seiner Ordnung, […] die zusammengehalten wird von Autorität und Hierarchie“ (94). Dabei instrumentalisiere Weißmann das Christentum für eine „nationale Identitätsstabilisierung“ und beraube es seiner „universalistischen Perspektive“ (95). Claussen setzt hier voraus, dass nationale Identitätsbildung notwendig mit universalen Werten, wie der unbedingten Achtung der Menschenwürde, kollidiert. Andere Autoren der Neuen Rechten sehen darin aber keinen Gegensatz, wie wir gesehen haben (s. o. 1.) Ferner bemerkt Claussen, dass Weißmann sich „nicht islamophob [äußert], denn sein wichtigstes Feindbild ist weniger der andersgläubige Fremde als der liberal-dekadente Mitbürger“ (95). – Das zweite Stichwort lautet „Christentum ohne Judentum“ (99) und impliziert die „Frage nach einem möglichen Antisemitismus“ (101). Weißmanns differenzhermeneutische Kritik der Rede von der ‚jüdisch-christlichen Tradition‘ ist für Claussen nachvollziehbar, denn der „übermäßige Gebrauch in kirchlichen und staatlichen Sonntagsreden“ mache „aus dieser Formel eine erbauliche Plattitüde“ (102). Auch Weißmanns Kritik an einer christlichen „‚Vereinnahmung‘“ des Judentums sei berechtigt. Doch er übergehe das grundsätzlich Verbindende zwischen (liberalem) Judentum und (liberalem) Christentum, wie den „personalen Monotheismus, die Ansätze zu einer humanen und universalen Moralität oder die Grundmotive einer religiösen Subjektivität“ (103). Außerdem meine Weißmann, nach der historischen Trennung von Judentum und Christentum habe „viel heidnische Volksreligion“ (103) auf das Christentum eingewirkt. Dabei beschränke er sich aber auf Nebensächliches, die Argumentation bleibe insgesamt lückenhaft. Hier sieht Claussen erneut taktisches Lavieren: Weißmanns „Räsonnement“ bleibe „vorsichtig und umständlich“, halte sich „mit judenfeindlichen Aussagen zurück“ (106) und passe sich „geschickt und beflissen dem ‚Zeitgeist‘ einer entnazifizierten Bundesrepublik an, in der ausdrücklicher Antisemitismus öffentlich geächtet ist“ (107). Diese Wortwahl suggeriert erneut, dass niedere Beweggründe am Werk sind, und ermöglicht die These, Weißmanns Position sei latent „judenfeindlich“. – Das dritte Stichwort lautet: „Völkischer Synkretismus“ (106). Weißmann argumentiere auf „historisch solide erscheinende Weise“, scheine jedoch „selbst zu wissen, dass es sich hierbei immer um erfundene Gestaltungen einer hochideologischen Retro-Utopie“ voller „fake-Mythologien und trash-Symbole“ handelt (107f.). Claussens Resümee fällt daher polemisch aus: Weißmann sei kein seriöser Historiker, sondern ein „Geschichtserfinder“ (110) aus „antimodernistischer Verbitterung“ (98).
4. „Volk ohne Religion“
Der vierte Beitrag von Arnulf von Scheliha, Direktor des Instituts für Ethik und angewandte Sozialwissenschaften (IfES) an der Universität Münster, widmet sich der „neu-rechten Affirmation der Volksidee“ (115) in historischer Perspektive. Er untersucht ausgewählte Texte in der Zeitschrift Sezession zwischen 2017 und 2019 und setzt sie in Beziehung zu drei protestantisch-theologischen Perspektiven auf das Thema in den 1920er Jahren. Der Titel des Beitrags deutet die These an: Im Unterschied zum Protestantismus vor 100 Jahren zeige die heutige Neue Rechte ein unzureichendes Verständnis der Bedeutung von Religion für den Volksbegriff.
Zu Beginn kritisiert von Scheliha exemplarisch eine Aussage von Siegfried Gerlach (in Sezession 91, 2019) über die grundgesetzlich definierte Identität des „Deutschen Volks“ als „Inhaber der Staatsgewalt“ (GG, Art. 20, Abs. 2). Die Kritik entzündet sich indes an dem, was Gerlach nicht sagt: Er übergehe die zentrale Bedeutung der „die Verfassung grundierenden Grundrechte“ (113) und hinterfrage den Wortlaut des Grundgesetzes. Das sei exemplarisch für die Neue Rechte: „Explizit proklamiert man Verfassungstreue, implizit stellt man wichtige Verfassungsbestimmungen in Frage“ (114). Laut von Scheliha richten sich die untersuchten Texte gegen einen „Menschenrechts- und Wirtschaftsliberalismus“ (119), wobei gelegentlich auch linke anti-kapitalistische Stimmen wie Chantal Mouffe und Sahra Wagenknecht zitiert werden. Insgesamt bleibe die Bestimmung des Volksbegriffs mit den Hinweisen auf ‚Sprache‘ (einschließlich Literatur), ‚Kultur‘ und ‚Geschichte‘ recht vage. Ethnische Konzeptionen, in denen Aspekte wie ‚Homogenität‘ und ‚Vererbung‘ wichtig sind, werden bevorzugt, aber nicht näher erläutert. Rassische oder rassistische Theorien werden allerdings zurückgewiesen, vielmehr werde die „Vielfalt der Völker“ (122) betont und „die globale Konvivenz aller Nationen gefordert“ (123). Dafür wird öfter der Begriff „Ethnopluralismus“ verwendet.5
Von Scheliha bemerkt kritisch, dass die geistes- und kulturgeschichtlichen Ambivalenzen, welche die „Kulturnation Deutschland“ im 19. Jahrhundert prägten, ausgeblendet werden. Daher gebe es keine fundierten Überlegungen zur konfliktreichen „deutschen oder europäischen Religionsgeschichte […], die bei seriöser Bestimmung der Identität der deutschen Geschichte sicherlich nicht übersehen werden darf“ (123). Damit ist der Hauptkritikpunkt benannt: Von Scheliha meint, der Volksbegriff der Neuen Rechten sei unterkomplex, weil er die religionstheoretische Dimension nicht zur Geltung bringt. Als Kontrast diskutiert er drei lutherische nationalkonservative Theologen in der Zeit der Weimarer Republik, um daraufhin seinen eigenen modern-liberalen Volksbegriff zu skizzieren.
a. Zuerst geht es um Emanuel Hirsch (1888–1972), der die ethische Bedeutung der Religion vor allem darin sieht, die Bindung der Menschen an ihr ‚Volk‘ zu festigen. Zugleich muss laut Hirsch die natürliche ‚Vaterlandsliebe‘ in persönlicher Entscheidung ‚ergriffen‘ werden, um ‚wahrhaft sittlich‘ und entsprechend wirkmächtig zu sein (127). Von Scheliha meint, auf diese Weise werde die natürliche ‚Vaterlandsliebe‘ einerseits gestärkt, andererseits „auf Distanz gebracht“ und nicht „im Sinne eines Nationalismus absolut gesetzt“, so dass „Kritik“ möglich werde (128). Er findet bei Hirsch „die Anerkennung der Subjektstellung der Einzelnen im Volk“ und damit den „Ansatz eines liberalen Staatsverständnisses“ (142).
Hier lohnt es sich, genau hinzuschauen. Tatsächlich betont Hirsch „‚die geheiligte Vaterlandsliebe, [welche] die Kraft hat, dem eignen Volke im Namen des Heiligen auch bittere Wahrheiten zu sagen‘“ (218, Anm. 53, dort mit falscher Quellenangabe6). Doch von Scheliha verschweigt zwei zentrale Grenzbegriffe, die für Hirschs Relativierung des Irdisch-Natürlichen, einschließlich der ‚Völker‘, bestimmend sind: Krieg und Tod. Hirsch behauptet, es sei die „Pflicht jeder Nation, für die Aufgabe, die sie in dem ihr gegebnen Leben und der ihr gegebnen Kraft von Gott empfangen hat, einzustehn bis aufs äußerste.“ Tue sie dies nicht, verliere sie ihre „Ehre“ und lasse „die unmittelbare Verbindung mit dem Herrn der Geschichte fahren, in der ihr ganzes Ethos ruht. Grauenvoll ist der Krieg immer. Wo aber der Wille zu ihm aus der Heiligkeit der Verantwortung entspringt, da wird der Krieg zum Ausdruck tiefsten Wesens des Ethischen, zum Ausdruck der Entscheidung selbst. Denn das heißt wahrhaft sich entscheiden: […], daß man im ganz eigentlichen Sinne sein Leben an sein Leben wagt vor Gott.“ (Hirsch 1924: 28)
Das Stichwort vom „Krieg“ ist eine zeitgenössische Anspielung. Hirsch denkt hier an den 1. Weltkrieg, den seine Zuhörer miterlebt haben, manche von ihnen als Soldaten. Indem Hirsch den Krieg als die höchste Möglichkeit des Menschen, für das „ganze Ethos“ seiner Nation einzustehen, deutet, verleiht er ihm eine metaphysische Bedeutung, unabhängig von der Frage nach politischen Zielen oder nach Sieg und Niederlage, ein Thema, das für den Aufstieg des deutschen Faschismus eine wichtige Rolle spielte. Hirschs Konstruktion ermöglicht die individuelle Sinngebung auch des unvermeidlich „Grauenvoll[en]“ und verklärt den Krieg als ethischen Akt par excellence, in dem der Mensch seiner höchsten Bestimmung entspricht7. Und das gilt nicht nur für die deutsche Nation, sondern für alle Nationen, also auch für den „Feind“, wenn er denn „den gleichen Geist in sich trägt“. In diesem Fall bestehe trotz aller Feindschaft eine „abstrakte Gemeinschaft im Höchsten, die macht, daß man auch den Feind ehren kann.“ Hirsch meint allerdings, dass dies vorläufig ein frommer Wunsch bleibt: „Uns Deutschen sind leider im Weltkrieg Gegner, die das hätten verstehen können, nicht beschieden gewesen.“ (Hirsch 1924: 28) Dennoch kann und soll sein studentisches Publikum gewiss sein, dass deutsche Soldaten trotz militärischer Niederlage und weltpolitischer Degradierung die Schlachtfelder als ethischer Sieger verließen.
Anschließend erklärt Hirsch, durch die Bewährung in der Gefahr des Todes erlange die Vaterlandsliebe ihren höchsten Sinn. Auch hier lohnt es sich, ausführlich zu zitieren: „Indem sie die Beugung lehrt unter die Macht über alle Mächte, schafft sie den Boden, auf dem die Sendung erst richtig verstanden und kraftvoll ausgeführt werden kann. Solche Beugung […] macht den Nacken steif.“ Die „Erinnerung, daß der Tod auch über die Völker herrscht, vollendet nun […] die Vaterlandsliebe erst zur wirklichen Ganzheit. Dem Tode ist eine weihende Gewalt eigen, kraft derer er jedem Augenblicke des Daseins unendliche Bedeutung gibt. […] Das bringt in das Dasein eine heiße Angst, aber aus ihr allein gebiert sich der starke leidenschaftliche Wille. Und nun lehrt uns die Beugung unter das Ewige, daß das alles nicht nur vom einzelnen Menschen gilt, sondern gerade so gut vom Leben des Vaterlands. Darum muß sie, so gewiß wir des Vaterlandes Leben als eignes Leben fühlen, unsrer Liebe, unserm opfernden und dienenden Willen eine unendliche Leidenschaft und Kraft geben.“ (Hirsch 1924: 29f.)
Es erscheint mehr als fraglich, dass Hirsch hier die Eröffnung individueller Gestaltungen des Handelns „zugunsten der Nation“ oder die Ermöglichung religiös grundierter „Kritik“ im Blick hat, wie von Schelihas ‚liberale‘ Deutung meint. Tatsächlich gibt es genau eine Option, in der sich für Hirsch der Dienst an der Nation und am Volk aufs Höchste bewährt: der soldatische Tod als „inneres Gewissensopfer“ (Assel 2016: 65) für das Vaterland. Dass Hirsch die Vaterlandsliebe für das religiöse Individuum in irgendeiner Weise „auf Distanz“ bringen will, ist eine euphemistische Verzeichnung seiner Position. Tatsächlich zielt Hirsch darauf, dass der ethisch-bellizistische Aspekt, auch und gerade angesichts des Grauenvollen im Weltkrieg, die Vaterlandsliebe erst „vollendet“. In eine ähnliche Richtung geht seine spätere Affirmation der deutschen Vernichtungspolitik ab 1942. Von Scheliha erwähnt zwar, dass Hirsch die „autoritären Präsidialregierungen“ der letzten drei Weimarer Jahre gedanklich „antizipiert[e]“ (126), aber er sagt nichts zu der seit 1929 vorbereiteten Hinwendung Hirschs zum „völkischen, totalitären Nationalsozialismus“ im Frühjahr 1932 (Assel 2016: 43, vgl. 48–54). Diese Lücke mag der theologischen Fokussierung geschuldet sein. Doch dass ein relevanter Aspekt im Blick auf den real existierenden Faschismus bzw. Nationalsozialismus unbenannt bleibt, wirkt angesichts seiner späteren Warnung vor (neo-)faschistischen Tendenzen (s. u.) – und im Kontext der sonstigen Abgrenzungen des Bandes gegen jede auch nur denkmögliche Offenheit in diese Richtung – befremdlich.
b. Bei Paul Althaus (1888–1972) gibt es biologische Begründungsmuster zur Erklärung des Volksbegriffs und der ‚Volks-Sendung‘ sowie eine Warnung vor ‚Überfremdung‘ (129). Zugleich affirmiert Althaus die „‚Einheit der Menschheit nach Schöpfung und Bestimmung‘“, die auch in der kirchlichen Verkündigung zur Geltung kommen müsse. Aus dem Evangelium ergeben sich keine direkten Forderungen für die Gestaltung des Staats- und Verfassungsrechts. Das Gewissen des Einzelnen bezeichne die Grenze staatlicher Ansprüche auf das ‚geistige Leben des Volkes‘. So werden laut von Scheliha „Überdehnungen im Volks- und Staatsverständnis gedanklich verhindert.“ (130)
c. Friedrich Gogarten (1887–1967) geht noch weiter in der gedanklichen Begrenzung staatlicher Machtansprüche. Ähnlich wie bei der heutigen Neuen Rechten sei seine geschichtlich-traditionsgemäße „Rückbesinnung auf das Volk“ und dessen Ordnungen eine Reaktion auf die moderne „‚Vergesellschaftung und […] Internationalisierung‘“ (132), die zur Dominanz oligarchischer und global orientierter Gruppen im Staat führt. Zugleich wendet Gogarten sich gegen nationale Begründungen des Staates, in denen er „eine pseudoreligiöse oder theokratische Verklärung sieht“ (133), denn der Staat sei souverän nur als von Gott eingesetzte Obrigkeit. Nation und Volk, Ehe und Familie sind für Gogarten sittlich-kulturelle Größen, in denen sich das göttliche Gebot ausspricht und den Menschen zum Gehorsam verpflichtet. Sie bleiben gemäß vernünftiger Einsicht veränderbar und sind durch die „Erfahrung der Offenbarung des Evangeliums“ im individuellen Gottesverhältnis jenseits jeder „Einbettung in die irdischen Ordnungen“ (134) begrenzt.
Sodann benennt von Scheliha Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den nationalkonservativen Theologen und der Neuen Rechten. Gemeinsam sei beiden die Betonung des „Volks“ als Referenzgröße für Recht und Staat und die Forderung „hoher Homogenität“ (135) in Volk und Nation. Ein Unterschied bestehe in der Vorstellung der besten Staatsform: Während die alte Rechte einen autoritären Staat erstrebte und das Volk vor allem biologisch-organologisch verstand, fordert die Neue Rechte mehr Mitsprache für das Staatsvolk durch die „Verankerung von plebiszitären Elementen in der Verfassung“ und betont kulturelle Einflüsse sowie lebenspraktische (‚sittliche‘) Gewohnheiten. Der größte Unterschied liege darin, dass die nationalkonservativen Theologen das ‚Gewissen‘ als für den „Selbststand des Einzelnen“ normative Instanz, auf die Volk und Staat „keinen Anspruch haben“ (137), benennen. Die damals vertretenen Ansichten seien zwar teilweise veraltet und „mit guten Gründen kritisiert“ worden, aber sie kennen wenigstens „so etwas wie eine innere oder geistige Reserve“ des Einzelnen gegenüber dem Volkskollektiv (137). Genau darin liege der „Mehrwert“ (134) gegenüber der Neuen Rechten, die zwar einen „homogenen Volkskörper […] imaginiert“, den es aber „gar nicht gibt“, und die aufgrund ihrer Ignoranz gegenüber der Geschichte des Christentums sowie einer „überzogenen Liberalismus-Kritik“ das Individuum mit dem Volk gedanklich „gleichschalte“. Hier besteht laut von Scheliha eine große „Gefahr“, denn es könnte dazu kommen, dass sich der „politische Wille“ die „vermeinte Homogenität auf Kosten der Freiheit der Menschen herzustellen, einst formieren könnte, und in diesem Fall entstünde aus der Neuen Rechten eine neo-faschistische Bewegung“. (138) Eine solche „Formierung“ stünde jedoch im Gegensatz zur vorher benannten neu-rechten Forderung nach mehr Mitsprache des Staatsvolks. Zudem wäre an dieser Stelle angesichts der jüngsten Erfahrungen zu fragen, ob von Scheliha den politischen Willen zur „Homogenität auf Kosten der Freiheit“ nur auf der ‚rechten‘ oder auch auf der ‚linken‘ Seite des politischen Spektrums verortet, z. B. bei ‚linken‘ Befürwortern von staatlicher Repression gegen begründete, aber vom Regierungsnarrativ abweichende Meinungen im Blick auf umstrittene Themen, wie z. B. Corona, Ukraine, Klima, Israel.
Im Schlussabschnitt skizziert von Scheliha seinen eigenen Volks- und Staatsbegriff. Grundlegend ist dabei das ‚Staatsvolk‘, das über die „gesetzlich verankerte und definierte Staatsangehörigkeit“ (140) definiert wird, wobei seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ethnisch-kulturelle Aspekte immer weniger wichtig werden. Insgesamt können Volk und Ethnie als „‚entkoppelt‘“ gelten (141). Die von der Neuen Rechten imaginierte ethnisch-kulturelle ‚Homogenität‘ sei „verfassungsrechtlich nicht gedeckt“ (142). Das Wort „Volk“ sei vielmehr ethisch zu verstehen als „Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“ der Einzelnen – oder genauer: der Staatsangehörigen? –, die an dieser Gemeinschaft „partizipieren“ (144). Zentral ist dabei der Gedanke, dass die Reichweite staatlicher Macht durch die „Subjektstellung des Einzelnen im Volk“ begrenzt werde – eine These, die im lutherischen Gedanken von Gottes „zwei Regierweisen“ (weltlich durch das ‚Schwert‘ und geistlich durch das ‚Wort‘) bereits „präfiguriert“ (145) sei. Die höchste Aufgabe des Staates bestehe heute darin, die Freiheit und Würde des Einzelnen zu schützen und zu fördern.
5. „Die politische Kultur Deutschlands im Schatten des Rechtspopulismus“
Der abschließende Beitrag stammt von Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Universität seiner Heimatstadt Leipzig. Er spricht zur „ostdeutschen Perspektive“ und „sozusagen aus der Sicht eines native speakers“ (147). Seine Einschätzung des Phänomens der Neuen Rechten, das er exemplarisch am Beispiel der AfD untersucht, unterscheidet sich in manchen Punkten deutlich von den vorangehenden Beiträgen.
Der erste Abschnitt untersucht die verbreitete Parallelisierung der heutigen politisch-kulturellen Atmosphäre mit der Situation in der DDR, vor allem im Blick auf die öffentliche Kontrolle der Meinungsfreiheit, und arbeitet das „Wahrheitsmoment einer solchen Parallelisierung“ (148) heraus. So erinnere die parteipolitische Frontstellung gegen die AfD an „das Agieren der sog. Blockparteien im parlamentarischen System der DDR“ (151). Außerdem gibt es Äußerungen von fachwissenschaftlicher Seite, die eine „politische Instrumentalisierung geltenden Rechts“ (154), bis hin zur willkürlichen Anwendung von Polizeigewalt gegen AfD-nahe Demonstranten empfehlen. Dies sei exemplarisch für die heute verbreitete, „moralisch honoriert[e]“ (155) und staatlich unterstützte Tendenz der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Ächtung von Menschen mit bestimmten Ansichten. Dabei kommen „denunziatorische Energie und Repressionslust vor allem aus der Mitte der Zivilgesellschaft“, was bei Leonhardt „irritierende Assoziationen“ an das seinerzeit von der Staatsführung der DDR erwünschte Verhalten „vorbildlicher sozialistischer Persönlichkeiten“ (157) hervorruft.
Nun könnte man antworten, bei den beschriebenen Vorgängen handle es sich um „Notwehrmaßnahmen zur Rettung der Demokratie“ und zur Abwehr einer ‚rechten‘ Bedrohung von „Toleranz und kulturelle[r] Vielfalt“. Das führt zum zweiten Abschnitt, der untersucht, ob die AfD tatsächlich eine Bedrohung darstellt. Leonhardt erklärt, die Bezeichnung der AfD als ‚Gefahr‘ sei eine „Fehlwahrnehmung“ (158) Tatsächlich stellen die AfD und ihre Wahlerfolge eher eine Herausforderung als eine Gefahr dar und seien keineswegs Anzeichen eines gesellschaftlichen ‚Rechtsrucks‘. Das zeige die Analyse der Bundestagswahl 2017: Viele Wählerinnen und Wähler der AfD hatten zuvor SPD oder die Linkspartei gewählt. Die politische Fokussierung auf die liberale Mitte habe zu Repräsentationskrisen auf beiden Seiten des politischen Spektrums geführt, und wenn wichtige Themen im politischen Tageschgeschäft dauerhaft vernachlässigt werden, seien Veränderungen im parteipolitischen und parlamentarischen Spektrum zu erwarten und „prinzipiell zu begrüßen“ (161). Ferner weist Leonhardt auf frühere „Provokationen, Tabubrüche und Flügelkämpfe“ (162) in der BRD hin, die zeigen, dass heutige Phänomene dieser Art im Umfeld der AfD nicht als besondere Warnzeichen gelten müssen. So wurde das Wort ‚Altparteien‘ bereits 1987 im Bundestagswahlprogramm der Partei Die Grünen verwendet, und es habe „geradezu realsatirische Züge“, dass Claudia Roth (seit 2002 MdB für Die Grünen) einen AfD-Abgeordneten am 17. Mai 2019 wegen der Verwendung genau dieses Wortes rügte und dabei schwerstes Geschütz auffuhr: „‚Aus der allerdunkelsten Geschichte ist dieses Wort zitiert worden immer wieder von Joseph Goebbels‘“ (163).
Leonhardt anerkennt die Problematik der Verbindungen von (AfD-)Politikern zum „rechtsradikal-verfassungsfeindlichen“ (162) Bereich, leitet daraus aber keine Forderungen für eine noch weitergehende Überwachung ab, sondern bezeichnet die bereits bestehende Sensibilität für diese Problematik als „Indiz für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie“ (165). Zugleich protestiert er mit einem Wort von Hermann Lübbe aus dem Jahr 1984 dagegen, „‚die Kritik am Nationalsozialismus zu einem zweckrational genutzten Instrument der moralischen und politischen Delegitimierung beliebiger aktueller Gegner‘“ (164f.) zu verwenden. Lübbes liberal-konservative Kritik richtete sich gegen marxistische Einflüsse in Philosophie und Sozialwissenschaft sowie gegen oppositionelle Bewegungen seit den späten 1960er Jahren. In neuerer Zeit sind es jedoch nicht mehr nur ‚linke‘ Kritiker des Staates, die aus sozialpolitischen Streitfragen „‚eine Probe aufs Exempel antifaschistischer Gesinnung‘“ (165) machen, wie Lübbe damals sagte, sondern vor allem der sich antifaschistisch aufführende Staat selbst, der mit Hilfe ausgewählter Extremismuskonzeptionen (vgl. Mohr; Rübner 2010) die Gesinnung der Bevölkerung überwacht und neuartige, oft unscharf formulierte Straftatbestände zur vermeintlichen „Delegitimierung“ oder „Verhöhnung“ des Staates erfindet, um Kritik an staatlichen und gesellschaftlichen Missständen, die der Stärkung des demokratischen Rechtsstaat dient, zu kriminalisieren.
Weiterhin erklärt Leonhardt, die verbreitete „Fehlwahrnehmung“ der AfD als ‚Gefahr‘ offenbare nicht nur die „mangelnde politische Souveränität der ‚Altparteien‘“ (168), sondern schade der politischen Kultur. Das zeige sich in der politisch motivierten negativen Berichterstattung der Leitmedien, die Wählerinnen und Wähler der AfD pauschal als „nur bedingt demokratiebereit“ (169) darstellt. Dieses Vorgehen sei Zeichen eines ‚Haltungsjournalismus‘ oder ‚werteorientierten Journalismus‘ (Georg Restle), in dem „eine bestimmte politische Orientierung bereits die Wahrnehmung des Gegenstands der Berichterstattung steuert“ (169). Die dadurch mitbewirkte gesamtgesellschaftliche Stimmung führe dazu, dass Gewalttaten gegen politische Funktionsträger legitim scheinen. So wurden im ersten Quartal 2019 mehr als die Hälfte aller gemeldeten Straftaten gegen Repräsentanten oder Mandatsträger von Parteien speziell gegen AfD-Mitglieder verübt. Leonhardt erwähnt zwar nicht, dass Gewaltdelikte nur einen geringen Teil dieser Straftaten darstellten, aber die Zahlen für 2020 zeigen dieselbe Tendenz, auch bei den Gewaltdelikten (Antwort der Bundesregierung 2021: 3). Dem Fazit ist jedenfalls zuzustimmen: Kriminelle Gewalt ist nicht weniger kriminell, nur weil „die politischen Überzeugungen der Gewaltopfer verwerflich sind“ (170). Vor dem Hintergrund, dass AfD-Parlamentarier „jedenfalls auf demokratischem Wege gewählt sind“8, sei ein gemeinsamer Standpunkt aller Parteien zur Ablehnung jeder „Gewalt gegen politische Verantwortungsträger“ (171) geboten.
Insgesamt empfiehlt Leonhardt, die Auseinandersetzung mit der AfD auf der Sachebene zu führen. Geboten sei politisch-pragmatische Einhegung statt Ausgrenzung, mit dem längerfristigen Ziel der Integration von Wählerinnen und Wählern, die ansonsten für das „etablierte Parteienspektrum“ verlorengehen; die AfD formuliere „falsche Antworten“, reagiere aber auf „real gestellte und insofern akute Fragen“ (174). Mit dieser Strategie könne an Erfahrungen mit der trotz mancher Konflikte erfolgreichen „Integration“ der Parteien Die Grünen und Die Linke „in den parlamentarischen Betrieb angeknüpft werden“ (176). Außerdem gebe es christlich-ethische Gründe für diese Strategie, die Leonhardt im dritten Abschnitt näher erläutert. Dabei folgt er dem lutherischen Theologen Eilert Herms, der die Stabilität politischer Gemeinwesen und ihrer Herrschaft an „die Möglichkeit und Bereitschaft der Regierten, zur Erhaltung und Weiterentwicklung der politischen Ordnung beizutragen“ (179), bindet. Gute Herrschaft zur allgemeinen Zufriedenheit entstehe durch die aktuell beste verfügbare Balance von Vorteilen und Nachteilen ohne „‚schlechterdings unerträgliche Zumutungen‘“; die konkrete Ausgestaltung der politischen Teilhabe wird durch die „Rechtsordnung des Grundgesetzes“ bestimmt; und die dort verbürgte Achtung der Menschenwürde, mitsamt den daraus abgeleiteten Grundrechten, berühre sich besonders eng mit dem „christlichen Menschenbild“ (180). Wenn man populistische Bewegungen als Ausdruck von Repräsentationskrisen versteht, dann schaden die Ausgrenzungstendenzen gegenüber der AfD dem demokratischen Gemeinwesen, weil sie die Teilnahme einer erheblichen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern an der Gestaltung des Gemeinwesens erschweren und damit die bestehenden Unzufriedenheiten noch verstärken. Die Aufgabe der evangelischen Kirchen könnte darin bestehen, ethische Orientierung innerhalb der staatlichen Ordnung nicht im Sinne eines „kirchlichen Moral-Paternalismus“ (185) zu formulieren, also die eigenen politischen Überzeugungen nicht religiös zu überhöhen, sondern auf eine umfassende Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger hinzuwirken. Zu fördern seien bestehende Tendenzen in Richtung partizipative Demokratie statt Elitendemokratie, die auch zugunsten der Überwindung eines „schlichte[n] Freund-Feind Dualismus“, der für Leonhardt „die eigentliche Gefahr“ (189) für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen darstellt, wirken können.
Resümee:
Der vorliegende Band bietet eine Bestandsaufnahme des Phänomens „Christentum von rechts“. Dabei geht es um Diskurs- und Ideenpolitik, ökonomische und machtpolitische Aspekte sind nicht im Blick. Es ist zu begrüßen, dass neben der Flut von publizistischen Beiträgen auch fundierte Analysen unternommen werden und dabei konservative Selbstzuschreibungen zum Zug kommen. Gelegentlich wird der Neuen Rechten die Artikulation wichtiger gesellschaftlicher Anliegen zugestanden. Insgesamt überwiegen jedoch Kritik und Ablehnung, bis hin zu Warnungen vor (neo-)faschistischen Tendenzen. Die konzeptionelle Problematik des Begriffs „Neue Rechte“ zur Bezeichnung heutigen ‚rechten‘ Denkens (Finkbeiner 2020: 63–65, 449) wird nicht erörtert. In den ersten drei Beiträgen wird die Haltung der Neuen Rechten als sozialpathologische Deformation des ‚Modernitätsverlierers‘ typisiert. Diese Deutungsperspektive ist nur begrenzt aufschlussreich, und eine „intellektuell gehaltvolle Auseinandersetzung“ (1), die der erste Beitrag immerhin mit einem konkreten Autor (Harald Seubert) verbindet, erscheint dann kaum noch möglich.
Zudem gab es bis Mitte der 1990er Jahre durchaus andere Selbsteinschätzungen der Neuen Rechten. Dies belegt der damals breit debattierte Band Die selbstbewusste Nation (Schwilk; Schacht 1995). Seine Beiträge zu einer deutschen Debatte waren bestimmt von einem prinzipiellen Antikommunismus, der das humane Anliegen des sozialistischen Aufbaus, das auch von Stimmen außerhalb der DDR-Staatsdoktrin anerkannt wurde (vgl. Falcke 2014: 97f.), leugnete: Faschismus bzw. Nationalsozialismus und Kommunismus waren demnach „totalitäre“ Systeme mit angeblichen „Heils- und Glücksversprechen“ (Templin 1995: 460) und führten zwangsläufig zu Diktatur und Massenverbrechen.9 Damit wurde die deutsche Vernichtungspolitik gegen Juden und osteuropäische Nationen zwar nicht bestritten, aber auch nicht mehr als singuläres Ereignis betrachtet. Dass dieses Thema heute keineswegs erledigt ist, haben die Kampagne gegen Achille Mbembe im Frühjahr 2020 und die daran anschließenden heftigen Debatten über Erinnerungs- und Geschichtspolitik gezeigt (vgl. Böckmann et al. 2022).
Weitere Beachtung verdient, dass die damaligen konservativen Stimmen sich zunächst nicht „auf verlorenem Posten“ (19), sondern auf der Siegerseite wähnten und meinten, die „demokratische Rechte [habe] nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Überwindung der Teilung erstmals wieder eine Chance in Deutschland“ (Zitelmann 1995: 176). Das große Hindernis sei allerdings die ‚Linksverschiebung‘ des politischen Spektrums und der öffentlichen Meinung gewesen. Eine solche ‚Linksverschiebung‘ wird auch im vorliegenden Band konstatiert und sollte nicht als Hirngespinst der Neuen Rechten abgetan werden.10 Auch an anderen Stellen gibt es Parallelen zur Gegenwart: So wurde schon 1995 eine „vermeintliche Nähe zwischen demokratischer Rechter und Extremisten“ behauptet und bestimmten Zeitschriften eine „‚Scharnierfunktion‘ zwischen Rechtsextremismus und Konservativismus“ attestiert, um demokratisch-konservative Autoren zu „diffamieren“ (Zitelmann 1995: 177). Zugleich ist hier genauer zu fragen: Wo handelte es sich um „pauschalisierende Stigmatisierung“ (Finkbeiner 2020: 436), und wo bestand Anlass zu Kritik am neuen Nationalbewusstsein (Gessenharter 1997) oder an der undifferenzierten Rede vom „Totalitarismus“ (Elm 1997)? Manche Diagnosen bleiben unverändert gültig: „Das Böse hat wieder einen politischen Namen: die Rechte. Die medial inszenierte Freund-Feind-Linie verläuft jetzt zwischen ‚Demokratie‘ (nicht: der Linken) und ‚der Rechten‘. Im Diskurs dient dieses unbedingte Entweder-Oder als zentrale Figur, da es keine klare Bestimmung des Vernichtungsobjekts erlaubt und – das ist entscheidend – keine Neutralität des einzelnen oder einer Gruppe mehr zulässt“ (Bubik 1995: 185). Die Vereinnahmung der Worte „Demokratie“ und „demokratisch“ durch die herrschenden Gewalten und die Assoziierung des Wortes ‚rechts‘ mit moralisch Anrüchigem ist also kein neues Phänomen. Zugleich ist das Zusammenspiel zwischen staatlicher Politik und ihrer Repräsentation in den Leitmedien inzwischen weiter perfektioniert worden (Meyen 2024: 32–53).
Als These formuliert: Auf ‚liberaler‘ Seite bestand schon damals oft nur ein bedingtes Interesse an differenzierter Auseinandersetzung mit konservativen Themen. Die Rede von der ‚Rechten‘ bleibt ein Kampfbegriff, der – wie auf der anderen Seite die Rede von der ‚Linken‘ – dazu dient, die sozialen Nöte im real existierenden Kapitalismus aus einer pauschal abzulehnenden und nur oberflächlich beschriebenen konträren Weltanschauung abzuleiten.11 Hier bedarf es weiterer Fragen: Zu welchem Zweck soll das Konstrukt einer einheitlichen „christlichen Rechten“ in Europa diskurspolitisch „popularisiert“ werden (Lo Mascolo; Stoeckl 2023: 17), und warum rücken dabei vor allem identitätspolitische Themen wie Gender und Race in den Mittelpunkt, während klassisch linke Themen, z. B. die Produktions- und Besitzverhältnisse, unbearbeitet bleiben?
Zu beachten sind weiterhin die unterschiedlichen Positionen der Autoren unseres Bandes im Blick auf die Repräsentationskrise, die durch die Präsenz des (Rechts-)Populismus manifest wird. Ist sie eine hinzunehmende Lücke bzw. ein „geschichtsphilosophisch unvermeidlich[er]“ Kostenfaktor der progressiven Moderne, wie A. Kubik erklärt (84), oder offenbart sie einen tatsächlichen Mangel an partizipativer Demokratie, wie R. Leonhardt denkt (181–186)? Die zuletzt genannte Position erscheint differenzierter. Populistische Bewegungen sind nicht pauschal als „Gefahr für die Demokratie“ abzukanzeln, sondern sie können genuin demokratische Anliegen in die Öffentlichkeit bringen und stärken damit den gesellschaftlichen Pluralismus (Meireis 2020: 394f.). Zudem sollte die Kritik sich nicht an der vermeinten Alternative „ethnozentrisch“ vs. „kosmopolitisch“ abarbeiten. Vielmehr geht es darum „einen Ausgleich zwischen dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte und deren notwendig partikular-nationalstaatlicher Implementation zu finden“ und dabei „konsequent die politische Auseinandersetzung zu suchen“, anstatt „nicht verhandelbare Standards“ einzuklagen (Anselm 2020: 56f.).
Zum Abschluss ein Vorschlag: Könnte der Verzicht auf schnelle Zuschreibungen der Etikette ‚rechts‘ und ‚links‘ helfen, Auswege aus der „verfahrenen Lage“ und dauernden „Polarisierung“ (62) zu finden? Es käme auf den Versuch an, auch wenn er wohl nur im Kleinen wirkt, denn er entspricht nicht den Imperativen der Medialisierung (Meyen 2020), denen inzwischen alle größeren gesellschaftlichen Institutionen, von Behörden und Konzernen über Sportvereine bis hin zu kirchlichen Einrichtungen, folgen. Umso wichtiger bleibt es, Frontstellungen in der Konstruktion von ‚rechts‘ und ‚links‘ und ihren jeweiligen Empörungs- und Skandalisierungsdynamiken, die nicht nur von ‚rechts‘ gepflegt werden, kritisch zu benennen und interdisziplinär zu analysieren.
 
1
Man braucht nur die Stichworte „Evangelische Kirche“, „Unvereinbarkeit“ und „AfD“ in eine Suchmaschine einzugeben. Vgl. auch Gemeinsamer Aufruf 2024.
 
2
Vgl. den Beschluss „Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und extremer Rechter“ der 14. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dem höchsten gemeinsamen Gremium der evangelischen Landeskirchen, vom Dezember 2023. Dort wird die gesellschaftspolitische Positionierung ohne jede Kontextualisierung als „Selbstkritik“ dargestellt: Es gehe um die „Aufarbeitung der eigenen Gewaltgeschichte“ und der damit verbundenen „überdauernden Traditionen von Rassismus, christlichem Antijudaismus und antimuslimischen Ressentiments“. Diese Pauschalisierung ist eher eine Selbstbezichtigung als eine Selbstkritik, und die emphatisch geäußerte – und durchaus löbliche – Absicht der „Aufarbeitung“ enthebt die eigene Positionierung jeder kritischen Nachfrage.
 
3
Im Unterschied zur Römisch-Katholischen Kirche, die sich als weltweite Einheit versteht, sind die evangelischen Landeskirchen in Deutschland grundsätzlich autonom: Jede Landeskirche ist eine eigene Kirche. Zudem gibt es eine Vielfalt von evangelischen Freikirchen, die in dem Band aber keine Rolle spielen.
 
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Methodisch fragwürdig ist es, wenn dabei von einem „semantischen Kampf“ (Herbst 2021: 18) um christliche Begriffe und Werte gesprochen wird, aber das eigene argumentative Agieren nicht mehr kritisch reflektiert wird. Akteure im „semantischen Kampf“ gibt es dann immer nur auf der anderen Seite.
 
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Der Begriff ist umstritten, nicht zuletzt aufgrund der verschiedentlich behaupteten Nähe zu seinem Gegenpol, dem „Multikulturalismus“, und soll hier nicht näher beleuchtet werden. Er wurde maßgeblich von dem Historiker und Soziologen Henning Eichberg (1942–2017) geprägt. Eichberg war in den frühen 1970er Jahren ein Stichwortgeber der Neuen Rechten, verortete sich danach aber zunehmend im ‚linken‘ politischen Spektrum, wanderte nach Dänemark aus und war dort in der „Sozialistischen Volkspartei“ aktiv (vgl. Eichberg 2022).
 
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Von Schelihas Anmerkungen 50–54 zitieren nicht aus Hirschs Schrift Deutschlands Schicksal, wie er angibt, sondern aus der auf einem Vortrag vor Göttinger Studenten basierenden Broschüre Die Liebe zum Vaterlande, die bei 218, Anm. 36 referenziert wird.
 
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Während von Scheliha diesen Zusammenhang bei Hirsch ausblendet, merkt er zu Paul Althaus (s. u.) kritisch an, bei diesem werde der Krieg „auf sozialdarwinistische Weise naturalisiert“ (136). Dieser doppelte Standard im historischen Urteil sticht ins Auge.
 
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Wie diese Legitimation hinterfragt werden kann, zeigt ein MDR-Interview mit Georg Restle Anfang Januar 2023 Der Interviewer behauptet dort, es sei „klar“, dass eine demokratisch gewählte Partei „nicht automatisch demokratisch sein muss“, und postuliert: „Das trifft auf die AfD zu.“ Restle schiebt die Erklärung hinterher: Bei der AfD handle es sich um „Verfassungsfeinde, die diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen wollen, die Grundpfeiler dieser Demokratie attackieren, die Institutionen abschaffen wollen.“ Restles Aussage ist nicht nur pauschalisierend, sondern im Blick auf die „Abschaffung“ der Institutionen schlicht falsch. Zugleich wirft sie ein bezeichnendes Licht auf den von ihm favorisierten Wertejournalismus („Wertejournalismus statt Neutralität“ 2023).
 
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Es ist bezeichnend, dass die Neue Rechte an dieser Stelle mit dem Liberalismus, den sie ansonsten vehement ablehnt, übereinstimmt. Beide Male werden „die Taten und Missetaten des Kommunismus nicht verglichen mit dem (rigoros verschwiegenen) Verhalten der Welt, die er infrage stellen will“ (Losurdo 2013: 62), sondern mit Werten und Idealen wie Freiheit und Menschenwürde.
 
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Der einzige Beitrag bei Collet; Lis; Taxacher (2021), der die These der „rechten Normalisierung“ hinterfragt, beobachtet ebenfalls eine graduelle gesellschaftliche ‚Linksverschiebung‘ und weist die Rede von einer „rechten Normalisierung“ zurück (Wagner 2021: 63–65). Das entspricht dem Befund von R. Leonhardt im vorliegenden Band.
 
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Bereits 1985 war zu lesen, dass es zwischen Konservativen und ‚dogmatisch nicht bornierten Linken‘ eine Schnittmenge in der Diagnose der Krise, aber nicht im Blick auf deren Genese gab: „Beide teilten die Diagnose einer kulturellen Krise des Kapitalismus in seinem jeweiligen Stadium, kämen aber zu völlig unterschiedlichen Erklärungen der Krisengenese“ (Finkbeiner 2020: 440, mit Verweis auf das Büchlein von H. Dubiel, Was ist Neokonservativismus?).
 
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Kritische Gesellschaftsforschung
Ausgabe #03, Juni 2024
ISSN: 2751-8922
In dieser Ausgabe:
Dennis Kaltwasser
Vorwort zur dritten Ausgabe
Axel Klopprogge
Die Rückkehr von Freiheit und Arbeit in eine neue Linke
Günter Roth
Gefährliche Alternative: Wer oder was gefährdet die Demokratie?
Matthias Gockel
Christentum von ‚rechts‘. Aktuelle Perspektiven und Deutungen
Harald Walach
Schlachthof der Heiligen Kühe. Ein Essay-Review über die Broschüre von Werner Thiede: Im Namen des sogenannten Fortschritts*
 
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