Vorwort zur ersten Ausgabe
PDF
Wir erleben derzeit eine tiefe gesellschaftliche Spaltung. Diese ist nicht nur in den westlichen Gesellschaften zu beobachten, es handelt sich vielmehr um ein globales Phänomen, das seit etlichen Jahren unaufhaltsam voranschreitet. Sie ist zu beobachten in Konflikten um ökonomische, klimapolitische und identitätspolitische Themen – die letzlich im Bereich des Wandels von sozialen Wertesystemen zu verorten sind – aber ebenso im Zusammenhang mit zwischenstaatlichen Konflikten, militärischen Interventionen und vor allem der Flüchtlingspolitik. Alle diese diskursiven Kämpfe waren bereits dominiert von Politiken der sozio-politischen Ein- und Ausgrenzung und damit einhergehend von dem Kampf um die Deutungshoheit über die in diesen Kontexten zugeschriebenen Identitäten und Zugehörigkeiten (links, rechts, (national)-chauvinistisch, solidarisch, fortschrittlich, (anti-)globalistisch usw.). Diese Konflikte sind nicht zuletzt unterlegt von den zunehmenden ökonomischen Verwerfungen in den (ehemaligen) westlichen Wohlfahrtsstaaten. Sie haben in Teilen westlicher Bevölkerungen zu tiefgreifender Skepsis gegenüber politischen Teilsystemen, insbesondere der Funktionsweise repräsentativer Demokratien und des Mediensystems geführt.
Seit März 2020 hat sich diese Spaltung jedoch noch einmal beschleunigt und dabei auch eine neue Qualität gewonnen. Diese resultiert im Kern aus den zunehmend unvereinbaren Perspektiven auf den politischen, medialen, sozialen und ökonomischen Umgang mit den vielfältigen (und sich vervielfältigenden) Krisen unserer Zeit. Mit einem Ausnahmezustand, der sich zu normalisieren droht, geht auch eine Verhärtung der diskursiven Grenzziehungen und ein zunehmender Ausschluss gegenhegemonialer Perspektiven einher. Freie öffentliche Kommunikation und demokratische Abstimmung finden an zentralen Punkten kaum oder gar nicht mehr statt, fundamentale Brüche in Diskurs und Logik erlangen wenig öffentliche Aufmerksamkeit, die argumentative Rationalität leidet. Das Politische im Sinne des konstruktiven agonistischen Streits um Regeln und Normen einer offenen Gesellschaft weicht zunehmend einem restriktiven gesellschaftlichen Antagonismus und einer autoritären technologisierten Biopolitik. In diesem Kontext erleben wir neben den bereits erwähnten Krisen auch eine existenzielle Krise der Rechtsstaatlichkeit, die nicht zuletzt in der zunehmenden öffentlichen Infragestellung ihrer Funktionsweisen Ausdruck verschafft.
In der Erstausgabe der „Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschung“ sind Stimmen aus verschiedenen Disziplinen und mit vielfältigen Perspektiven versammelt. Sie alle eint der Wunsch, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche und die zugrundeliegende Logik der Krisensituation aus ihren jeweiligen Perspektiven und mit dem Inventar ihres Faches kritisch zu reflektieren. Ausgehend von dieser Reflexion weisen diese Beiträge auf grundlegendere und längerfristige Entwicklungen und tiefere Strömungen gesellschaftlichen, politischen sowie philosophischen Denkens hin und entwickeln erste Ansätze eines interdisziplinären Forschungsprogramms, das die krisengetriebene Transformation in ihrer Komplexität erfassen, sie einordnen und Lösungswege zeigen kann. Insofern wirken sie auch vorausdeutend und richtungsweisend für kommende Ausgaben dieser Zeitschrift.