Ausgabe #01, Juli 2022
Gesellschaft in der Krise. Analysen – Perspektiven – Forschungsaufgaben
Wir erleben derzeit eine tiefe gesellschaftliche Spaltung. Diese ist nicht nur in den westlichen Gesellschaften zu beobachten, es handelt sich vielmehr um ein globales Phänomen, das seit etlichen Jahren unaufhaltsam voranschreitet. Sie ist zu beobachten in Konflikten um ökonomische, klimapolitische und identitätspolitische Themen – die letzlich im Bereich des Wandels von sozialen Wertesystemen zu verorten sind – aber ebenso im Zusammenhang mit zwischenstaatlichen Konflikten, militärischen Interventionen und vor allem der Flüchtlingspolitik. Alle diese diskursiven Kämpfe waren bereits dominiert von Politiken der sozio-politischen Ein- und Ausgrenzung und damit einhergehend von dem Kampf um die Deutungshoheit über die in diesen Kontexten zugeschriebenen Identitäten und Zugehörigkeiten (links, rechts, (national)-chauvinistisch, solidarisch, fortschrittlich, (anti-)globalistisch usw.). Diese Konflikte sind nicht zuletzt unterlegt von den zunehmenden ökonomischen Verwerfungen in den (ehemaligen) westlichen Wohlfahrtsstaaten. Sie haben in Teilen westlicher Bevölkerungen zu tiefgreifender Skepsis gegenüber politischen Teilsystemen, insbesondere der Funktionsweise repräsentativer Demokratien und des Mediensystems geführt.
Seit März 2020 hat sich diese Spaltung jedoch noch einmal beschleunigt und dabei auch eine neue Qualität gewonnen. Diese resultiert im Kern aus den zunehmend unvereinbaren Perspektiven auf den politischen, medialen, sozialen und ökonomischen Umgang mit den vielfältigen (und sich vervielfältigenden) Krisen unserer Zeit. Mit einem Ausnahmezustand, der sich zu normalisieren droht, geht auch eine Verhärtung der diskursiven Grenzziehungen und ein zunehmender Ausschluss gegenhegemonialer Perspektiven einher. Freie öffentliche Kommunikation und demokratische Abstimmung finden an zentralen Punkten kaum oder gar nicht mehr statt, fundamentale Brüche in Diskurs und Logik erlangen wenig öffentliche Aufmerksamkeit, die argumentative Rationalität leidet. Das Politische im Sinne des konstruktiven agnostischen Streits um Regeln und Normen einer offenen Gesellschaft weicht zunehmend einem restriktiven gesellschaftlichen Antagonismus und einer autoritären technologisierten Biopolitik. In diesem Kontext erleben wir neben den bereits erwähnten Krisen auch eine existenzielle Krise der Rechtsstaatlichkeit, die nicht zuletzt in der zunehmenden öffentlichen Infragestellung ihrer Funktionsweisen Ausdruck verschafft.
In der Erstausgabe der „Zeitschrift für kritische Gesellschaftsforschung“ sind Stimmen aus verschiedenen Disziplinen und mit vielfältigen Perspektiven versammelt. Sie alle eint der Wunsch, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche und die zugrundeliegende Logik der Krisensituation aus ihren jeweiligen Perspektiven und mit dem Inventar ihres Faches kritisch zu reflektieren. Ausgehend von dieser Reflexion weisen diese Beiträge auf grundlegendere und längerfristige Entwicklungen und tiefere Strömungen gesellschaftlichen, politischen sowie philosophischen Denkens hin und entwickeln erste Ansätze eines interdisziplinären Forschungsprogramms, das die krisengetriebene Transformation in ihrer Komplexität erfassen, sie einordnen und Lösungswege zeigen kann. Insofern wirken sie auch vorausdeutend und richtungsweisend für kommende Ausgaben dieser Zeitschrift.
WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
Erkenntnis und Wahn. Das Problem der Wissenschaft in der Weltkrise
Jochen Kirchhoff ,
Berlin
POLITISCHE PHILOSOPHIE, IDEENGESCHICHTE
Demokratie, Technokratie und die politische Philosophie der Zukunft
Hannah Broecker ,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Das weit verbreitete Verständnis von Covid-19 als Bedrohung der öffentlichen (Gesundheits-) Sicherheit dient als diskursive Grundlage für die Anwendung von Notfallmaßnahmen – sowohl im Bereich der öffentlichen Gesundheit als auch im Bereich der politischen Entscheidungsverfahren. Dies hat zu einer Stärkung der Rolle von (medizinischen) Experten bei der politischen Entscheidungsfindung auf Kosten der bis dahin etablierten demokratischen Verfahren und der öffentlichen Debatte geführt. Sie hat auch die Vorstellung gestärkt, dass Informationen entweder sicherheitsrelevant oder sicherheitsfeindlich sein können – zu beobachten beispielsweise an der starken Zunahme journalistischer Verweise auf Faktenchecker und den Dämonisierung dessen, was als Fehl-, Des- und Misinformationen bezeichnet wird. In diesem Artikel untersuchen wir zunächst, ob diese Versicherheitlichung von Covid zu Störungen in den gesellschaftlichen Teilsystemen der demokratischen Regierungsführung und der wissenschaftlichen Debatte geführt hat. Zweitens untersuchen wir die Rolle des expertokratischen und technokratischen Denkens im aktuellen Krisendiskurs vor dem Hintergrund sowohl historischer als auch aktueller Trends in der politischen Philosophie.
POLITISCHE THEORIE
Imunutät: Sicherheit; Sicherheit: Immunität... ad infinitum.
Mark Neocleous ,
Brunel University London
In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass die Art und Weise, wie mit Covid umgegangen wird, eine der wichtigsten ideologischen Verschiebungen unserer Zeit verstärkt, nämlich die Verquickung von Immunität und Sicherheit. Dabei handelt es sich um einen Prozess, bei dem Sicherheit zunehmend als eine Art biologische Wahrheit naturalisiert und der Körper als ein Sicherheitssystem vorgestellt wird. Der Artikel untersucht die Entwicklung dieser Verbindung anhand der immunologischen Vorstellungskraft und von Schlüsseltexten aus der Welt der Sicherheit und wendet sich dann der Autoimmunerkrankung zu, um die naheliegende Frage zu stellen: Wenn sich das Immunsystem gegen den Körper wenden kann, den es eigentlich verteidigen soll, was sagt uns das über das Sicherheitssystem und was es mit seiner eigenen Körperpolitik anrichten wird?
LINGUISTIK
Angstkommunikation in der Corona-Pandemie: Zum Muster einer sprachlich-kommunikativen Praktik
Christina Gansel ,
Universität Greifswald
DISKURSANALYSE
Die Ungeimpften als Sündenbock: Eine Medienanalyse der politischen Propaganda während der COVID-19-Pandemie
Adam Szymanski ,
University of Chicago
Als die COVID-19-Impfstoffe der Öffentlichkeit im Jahr 2021 vorgestellt wurden, setzten die Nationalstaaten konzertierte Propagandakampagnen ein, um die Akzeptanz der Impfstoffe zu steigern. Zunächst behauptete die Propaganda, dass die Impfstoffe Infektionen verhindern und die Pandemie beenden würden. Als die Zahl der COVID-19-Fälle kurz nach der größten Massenimpfkampagne in der Geschichte der Menschheit exponentiell anstieg, ging die Propaganda dazu über, eine neue Minderheitengruppe namens „die Ungeimpften“ zu konstruieren, die sie zum Sündenbock für die Härten machte, die seit März 2020 durch die staatlich erzwungenen Abriegelungen entstanden. Dieser Aufsatz analysiert den mediatisierten makropolitischen Diskurs von Ende 2021 und Anfang 2022, um zu zeigen, wie er ein ideologisches Klima schuf, das die politische Unterdrückung ungeimpfter Personen rechtfertigte und so auf der Grundlage des Impfstatus eine segregationistische Gesellschaft entstehen ließ.
DISKURSANALYSE
Die Destabilisierung von Demokratien. Eine Diskursanalyse
Armin Triebel ,
SSIP, Berlin
Im Hintergrund dieser Mikrostudie, die einen Chat-Verlauf zum Thema Maskentragen im Netzwerk „nebenan.de“ zwischen der ersten und der zweiten Covid19-Welle 2020 analysiert, geht es um die Stabilität liberaler Einstellungen in westlichen Demokratien und die Gefahr, die diesen von innen droht. Seit einigen Jahren prägen zwei Tendenzen die öffentliche Kommunikation in der Bundesrepublik, ein Angst- und Sicherheitsdiskurs und eine hochgespannte Moralisierung bei der Abwehr gegnerischer Positionen, für die in letzter Zeit die Wendung „Das geht gar nicht“ Ausdruck geworden ist. Der Sicherheitsdiskurs erhält Angst aufrecht, und der Angstdiskurs fördert autoritäre und autoritätshörige Haltungen. Zusammen mit der „cancel culture“ fügen sich diese Tendenzen zur Symptomatik einer illiberalen Verformung der westlichen Demokratie, die durch die Politik der Corona-Abwehr einen mächtigen Schub bekommen hat. Die Studie verfolgt das Ziel, diese Zusammenhänge in einem Ausschnitt der Alltagskommunikation zu rekonstruieren.
MEDIENWISSENSCHAFT
Warum die Kommunikationswissenschaft einen Neustart braucht
Michael Meyen ,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Der Beitrag plädiert dafür, öffentliche Kommunikation ins Zentrum kritischer Gesellschaftsanalyse zu rücken, kritisiert den Status quo der Medien- und Journalismusforschung und entwickelt eine Agenda, zu der Besitzverhältnisse gehören, internationale Meinungskartelle, die Verquickung von Staaten und Digitalkonzernen sowie der Einfluss von ressourcenstarken Akteuren auf die Medienrealität.